Wo sind die Kinder hin?
Eines Tages im Jahr 1284 betrat ein bunt gekleideter Flötenspieler die Stadt Hameln und bot sich an, Häuser und Straßen von der Rattenplage zu befreien. Der Mann begann auf seiner Flöte zu spielen und alle Ratten und Mäuse kamen aus ihren Verstecken hervor und versammelten sich um ihn. Da zog er mit ihnen an die Weser, wo die Tiere im Fluss ertranken. Doch so befreit von der Plage überlegten es sich die Bürger anders und verweigerten dem Rattenfänger seinen Lohn. Der zog zornig davon, kam aber nach einiger Zeit zurück, gerade als die Bürger in der Kirche waren, und blies erneut auf seiner Flöte. Diesmal folgten ihm die Kinder Hamelns und er führte sie hinaus in einen Berg, in den er mit ihnen verschwand. Nur zwei Kinder, das eine blind, das andere taub, kehrten zurück, aber 130 Kinder wurden nie wieder gesehen.
Der Rattenfänger von Hameln bei den Gebrüdern Grimm
Das erste Mal wurde der Kinderauszug 1430 in einer Lüneburger Handschrift erwähnt. Die Sage selbst wurde erstmals 1556 bei Jobus Fincelius genannt. Im 17. Jhdt. griff der Jesuit Athanasius Kircher die Sage auf. Er beschrieb die Geschehnisse der Sage als Wunder, das immer wieder nacherzählt wurde und verfasste dazu ein Musikwerk, die „Musurgia universalis“ von 1650. Später wurde die Sage von den Gebr. Grimm in ihrer Sammlung „Deutsche Sagen“ aufgenommen.
Die Sage vom Rattenfänger von Hameln ist bestimmt keine erbauliche Geschichte. Schließlich handelt sie von Bürgern, die zu geizig sind, um anständig für eine Leistung zu bezahlen, von Rache, von Kindesentführung und sie endet auf keinen Fall mit einem Happy End. Und trotzdem ist sie über die ganze Welt weit verbreitet. Im ganzen englischsprachigen Raum wird sie unter dem Namen “The Rat-Catcher of Hamelin” und “The Pied Piper of Hamelin” erzählt. In vielen Ländern wird sie in der Schule besprochen und besonders beliebt ist sie wohl in Japan und in den USA. Seit 2014 zählt die Sage zum immateriellen Kulturerbe der UNESCO.
Kann die Sage vom Rattenfänger von Hameln so passiert sein.
Wie fast alle Sagen beruht auch diese wohl auf einem wahren Kern. Die Fakten klingen aber eher unglaubwürdig. Fest steht, dass Mäuse und Ratten gar nicht auf die Töne einer Flöte reagieren. Und wären sie tatsächlich in die Weser geführt worden, hätten sie tatsächlich problemlos wieder ans Ufer schwimmen können. Darüber hinaus findet sich in den Büchern Hamelns kein Hinweis auf einen Rattenfänger, dem Lohn versprochen worden wäre. Und zu guter Letzt klingt es schon sehr unwahrscheinlich, dass 130 Kinder einfach so verschwinden und kein Erwachsener hätte etwas davon mitbekommen.
Im Grunde handelt die Sage vom Rattenfänger von Hameln von zwei Ereignissen, von der Befreiung von der Rattenplage und vom Auszug der Kinder.
Ratten galten im Mittelalter in den engen Städten immer wieder als große Plage. Besonders, wenn sie sich übers Brot, übers Korn und die anderen Vorräte hermachten. Um der Plage Herr zu werden, gab es damals schon Rattenfänger, deren Tätigkeit aber wohl eher mit der der heutigen Kammerjäger vergleichbar wäre. Gift auslegen hilft gegen Ratten und Mäuse doch weit effektiver als die Flöte zu spielen. Trotzdem standen Rattenfänger gesellschaftlich auf der untersten Stufe und wurden, ähnlich wie die Henker, von den meisten Bürgern gemieden.
Für die Geschichte vom Kinderauszug und deren historischen Kern gibt es verschiedene mehr oder weniger wahrscheinliche Theorien.
Da könnte sich die Sage zum einen auf den Kinderkreuzzug gründen. An vielen Orten in Deutschland machten sich von religiösen Eiferern verführte Kinder auf, um ins Heilige Land, ins Land der Ungläubigen zu pilgern. Dort kamen sie aber nie an. Der Zug zerstreute sich, andere überlebten die Strapazen der Reise nicht oder landeten als Sklaven auf den Märkten des Orients. Allerdings fand der Kinderkreuzzug im Jahre 1212 statt, also 72 Jahre vor der Hamelner Geschichte.
Eine andere Theorie erzählt von einem Sektenführer, der die Jugend verführt haben soll und dass es während einer Zusammenkunft außerhalb der Stadt zu einem Unglück, einem Erdrutsch etwa, gekommen sei.
Der am ehesten glaubhafte Hintergrund der Sage wird aber wohl in der deutschen Ostkolonisation zu finden sein. Damals wurden junge Siedler angeworben,denen jenseits der Elbe, in Pommern, in Mähren und in Siebenbürgen Land versprochen wurde. Die von den Territorialherren beauftragten Werber, Lokatoren genannt, trugen wirklich meist bunte Kleider und hatten Trommeln oder Flöten dabei, um die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Für die meist jungen Menschen, die oft kein Erbe zu erwarten hatten, war dies eine echte Chance, sich eine eigene Zukunft aufzubauen. Von einem solchen Treck, der sich gen Osten aufmachte, erhielten die Daheimgebliebenen nur noch sehr selten Nachricht. Für die Eltern waren diese Kinder wirklich auf immer verloren. Die jungen Siedler fanden aber tatsächlich in den östlichen Gebieten eine neue Heimat. Besonders in Brandenburg in der Uckermark erinnern einige Ortsnamen an die Hamelner Herkunft.
Die Sage vom Rattenfänger von Hameln
Im Jahr 1284 ließ sich zu Hameln ein wunderlicher Mann sehen. Er hatte einen Rock von vielfarbigem, buntem Tuch an, weshalb er Bundting soll geheißen haben, und gab sich für einen Rattenfänger aus, indem er versprach, gegen ein gewisses Geld die Stadt von allen Mäusen und Ratten zu befreien. Die Bürger wurden mit ihm einig und versicherten ihm einen bestimmten Lohn.
Der Rattenfänger zog demnach ein Pfeifchen heraus und pfiff, da kamen alsobald die Ratten und Mäuse aus allen Häusern hervorgekrochen und sammelten sich um ihn herum. Als er nun meinte, es wäre keine zurück, ging er hinaus, und der ganze Haufen folgte ihm, und so führte er sie an die Weser; dort schürzte er seine Kleider und trat in das Wasser, worauf ihm alle die Tiere folgten und hineinstürzend ertranken. Nachdem die Bürger aber von ihrer Plage befreit waren, reute sie der versprochene Lohn, und sie verweigerten ihn dem Manne unter allerlei Ausflüchten, so daß er zornig und erbittert wegging.
Am 26. Juni auf Johannis- und Paulitag, morgens früh sieben Uhr, nach andern zu Mittag, erschien er wieder, jetzt in Gestalt eines Jägers, erschrecklichen Angesichts, mit einem roten, wunderlichen Hut, und ließ seine Pfeife in den Gassen hören. Alsbald kamen diesmal nicht Ratten und Mäuse, sondern Kinder, Knaben und Mägdlein vom vierten Jahr an in großer Anzahl gelaufen, worunter auch die schon erwachsene Tochter des Bürgermeisters war. Der ganze Schwarm folgte ihm nach, und er führte sie hinaus in einen Berg, wo er mit ihnen verschwand.
Dies hatte ein Kindermädchen gesehen, welches mit einem Kind auf dem Arm von fern nachgezogen war, darnach umkehrte und das Gerücht in die Stadt brachte. Die Eltern liefen haufenweis vor alle Tore und suchten mit betrübtem Herzen ihre Kinder; die Mütter erhoben ein jämmerliches Schreien und Weinen. Von Stund an wurden Boten zu Wasser und Land an alle Orte herumgeschickt, zu erkundigen, ob man die Kinder oder auch nur etliche gesehen, aber alles vergeblich. Es waren im ganzen hundertunddreißig verloren. Zwei sollen, wie einige sagen, sich verspätet und zurückgekommen sein, wovon aber das eine blind, das andere stumm gewesen, also daß das blinde den Ort nicht hat zeigen können, aber wohl erzählen, wie sie dem Spielmann gefolgt wären; das stumme aber den Ort gewiesen, ob es gleich nichts gehört. Ein Knäblein war im Hemd mitgelaufen und kehrte um, seinen Rock zu holen, wodurch es dem Unglück entgangen; denn als es zurückkam, waren die andern schon in der Grube eines Hügels, die noch gezeigt wird, verschwunden.
Die Straße, wodurch die Kinder zum Tor hinausgegangen, hieß noch in der Mitte des XVIII. Jahrhunderts (wohl noch heute) die bunge-lose (trommel-, tonlose, stille), weil kein Tanz darin geschehen noch Saitenspiel durfte gerührt werden. Ja, wenn eine Braut mit Musik zur Kirche gebracht ward, mußten die Spielleute über die Gasse hin stillschweigen. Der Berg bei Hameln, wo die Kinder verschwanden, heißt der Poppenberg (der auch Koppenberg genannt wurde), wo links und rechts zwei Steine in Kreuzform sind aufgerichtet worden. Einige sagen, die Kinder wären in eine Höhle geführt worden und in Siebenbürgen wieder herausgekommen.
(Brüder Grimm, Deutsche Sagen, Nr. 245: „Die Kinder zu Hameln“)
Hameln ist Teil der Deutschen Märchenstraße